Es ist vermutlich der schlimmste Alptraum aller Eltern: Die eigene Tochter spielt und chattet in ihrem Zimmer auf dem PC oder Smartphone. Lernt dort nichtsahnend einen Mann kennen, der mit ihr flirtet. Und wird später von ihrer Internet-Bekanntschaft mit Nacktfotos erpresst, missbraucht und kaltblütig ermordet. Natürlich stellen sich die Eltern die Frage: Hätten wir die Tat verhindern können? Vermutlich nicht.

Deshalb ist es die Pflicht von Politik und Gesellschaft, das Risiko des sogenannten Cybergroomings – die missbräuchliche Kontaktaufnahme von Erwachsenen zu Minderjährigen im Internet – zu verhindern. Unter anderem durch ein deutliches “Ja” zum EU-Gesetzentwurf zur Prävention und Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch¹. Denn momentan schützen die rigiden Datenschutzrichtlinien in der EU vor allem eine Gruppe: die Täter.

Mörder von Ayleen zu lebenslanger Haft verurteilt

Nach dreieinhalb Monaten Prozess wurde am 28. September 2023 am Landgericht Gießen das Urteil im Fall der ermordeten 14-jährigen Schülerin Ayleen aus Gottenheim (Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald) verkünden: Die Kammer sprach den heute 30 Jahre alten Jan P. aus Waldsolms (Lahn-Dill-Kreis) unter anderem wegen Mordes und versuchter Vergewaltigung mit Todesfolge schuldig. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Außerdem stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete eine Sicherungsverwahrung an².

Jan P. hatte Ayleen wohl über einen Messengerdienst und ein Onlinespiel kennengelernt. Er soll dem Mädchen teils hunderte Nachrichten pro Tag mit stark sexualisierten Inhalten geschrieben, immer wieder Nacktfotos von ihr gefordert und sie damit unter Druck gesetzt haben. Auch habe er gedroht, sich umzubringen oder ihren Familienmitgliedern etwas anzutun.

Am 21. Juli 2022 hat der Täter Ayleen dann wahrscheinlich mit seinem Auto von Gottenheim in ein Waldstück nach Hessen verschleppt. Dort, so hieß es in der Anklage, habe er sie ermordet, nachdem er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Die Leiche versenkte er, wie er zugab, im Teufelssee nahe Echzell in der Wetterau.

Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger sagte über den Angeklagten, er habe noch nie erlebt, dass jemand “so gleichgültig und ignorant” sei, wenn er ein Leben ausgelöscht habe. Der Mann habe ein sexuelles Bedürfnis gehabt und dieses umgesetzt. “Wenn dabei jemand stirbt, ist es ihm auf Deutsch gesagt scheißegal.” Das sei es, was den 30-Jährigen so gefährlich mache.

Cybergrooming: Das “Spiel” mit dem Tod

Der Fall Ayleen ist ein erschütterndes Beispiel für das sogenannte Cybergrooming, also die Anbahnung sexualisierter Kontakte von Erwachsenen mit Minderjährigen über das Internet. Cybergrooming-Täter nutzen dabei geschickt die Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit von Kindern aus. Oft geben sich die Pädokriminellen in Onlinespielen, Chats oder auf Social Media als Gleichaltrige aus und senden anfangs vermeintlich harmlose Nachrichten, Komplimente und Versprechungen. Später zeigt sich dann der “Wolf im Schafspelz”: Mit Druck und Drohungen bedrängen die Täter ihre Opfer und bringen sie dazu, beispielsweise Nacktfotos und sexualisierte Videos zu senden, mit denen sie die peinlich berührten Kinder anschließend erpressen. Oft mit dem Ziel, ein persönliches Treffen zu erzwingen, das schlimmstenfalls in einem Gewaltverbrechen endet.

Bei der Vernehmung von Ayleens Mutter als Zeugin im Prozess gegen Jan P. standen natürlich Fragen im Raum, wie: “Was hätte ich merken können?“, oder: “Wie hätte man die Tat verhindern können?”. Eindeutige Antworten darauf gibt es natürlich nicht. Dennoch will Ayleens Mutter Familien und junge Menschen über die Gefahren im Internet aufklären. Das bringt ihre Tochter zwar nicht zurück, könnte aber dazu beitragen, dass nicht noch mehr Kinder Opfer von Grooming-Pädophilen werden.

Denn die Fälle von Cybergrooming haben allein in Deutschland in den vergangenen Jahren rapide zugenommen. Dies zeigt eine Studie der Landesanstalt für Medien NRW³: Fast ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen (24 %) wurde 2022 im Netz von Erwachsenen zu einer Verabredung aufgefordert (2021: 20 %) – besonders unter den 8- bis 12-Jährigen sind die Zahlen hier im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen.

EU Gesetzentwurf: KI gegen Kinderpornografie

Um Cybergrooming und die Verbreitung von kinderpornografischem Material im Internet und alle damit zusammenhängenden Missbrauchs- oder sogar Mordfälle zu verhindern, will jetzt endlich die EU einschreiten. Denn Pädokriminalität im Internet verzeichnet exponentielle Wachstumsraten und macht vor den deutschen Grenzen nicht halt.

Julia von Weiler, Vorstand der internationalen Kinderschutzorganisation Innocence in Danger, beschreibt die Gefahren mit drastischen Worten: Das Internet wirke wie ein “gigantischer Brandbeschleuniger“ für sexuelle Gewalt. Denn Täter könnten zu jeder Tages- und Nachtzeit unbeobachtet Kontakt zu Minderjährigen aufnehmen.

Gesetz gegen KinderpornografiePin
Bild: © N. Theiss / Adobe Stock

Die Diplom-Psychologin sieht jetzt vor allem die Gesetzgeber in der Pflicht: Strafverfolger müssten an Daten kommen können, und es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, Missbrauchsdarstellungen aus dem Netz zu löschen. Für von Weiler geht deshalb der EU-Gesetzesvorschlag in die richtige Richtung, mithilfe dessen Fälle von Grooming und sexuellem Kindesmissbrauch dank fortschrittlicher KI (Künstlicher Intelligenz) im Internet aufgespürt, gemeldet, und Täter zur Rechenschaft gezogen werden können. Kritiker – darunter vor allem Datenschützer – diskutieren den EU-Gesetzentwurf unter dem Schlagwort “Chatkontrolle“. Sie sehen darin “eine Massenüberwachung, die uns alle unter Generalverdacht stellt” und fordern vor allem: Prävention.

Doch gerade der Fall Ayleen zeigt, dass eine primär auf Prävention basierende Strategie gegen Kinderpornografie, Grooming und Missbrauch fehlschlagen wird, solange die “Ware Kind” für Täter im Internet jederzeit “leicht verfügbar” ist, und sie nicht Gefahr laufen “aufzufliegen”.

So erzählte Ayleens Mutter während ihrer Zeugenaussage vor Gericht, dass Soziale Medien zu Hause aus Präventionsgründen durchaus thematisiert wurden. Die Mutter habe gewusst, dass Ayleen auf TikTok und Instagram unbekannte Follower hatte, die sie plötzlich “Freunde” nannte. In diesem Kontext habe sie ihr Kind gewarnt: “Nur weil du mit so jemandem Kontakt hast, kennst du die Person doch nicht”.

Erst wenige Wochen vor ihrem Verschwinden habe sie mit Ayleen noch über mögliche Gefahren des Internets gesprochen. Denn: Ayleen hatte im Netz einen jungen Mann aus Kassel kennengelernt, der sie im Juli besuchen wollte. “Aber das wollten wir nicht”, erzählt die Mutter. “Nachher ist das ein Krimineller, hab ich zu ihr gesagt.”


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