Die drei größten Irrtümer bei der Betrachtung von AD(H)S bei Erwachsenen 

Die drei größten Irrtümer bei der Betrachtung von AD(H)S bei Erwachsenen 

Bild: © Margarita Ratatosk / Adobe Stock

– beleuchtet anhand aktuellster neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.


Viele Erwachsene erhalten ihre AD(H)S-Diagnose erst spät – und begegnen dann einer Vielzahl an Vorurteilen und Missverständnissen. Doch moderne Hirnforschung und traumasensible Therapie zeigen: Hinter den Symptomen steckt weit mehr als Unruhe oder Vergesslichkeit. Dieser Beitrag räumt mit den drei größten Mythen rund um AD(H)S auf – fundiert, differenziert und mit Blick auf das, was wirklich hilft.

Mythos 1 – Entweder harmlos oder katastrophal

ADHS ist eine Kleinigkeit oder eine absolut furchtbare Krankheit, mit der man nichts auf die Reihe bekommt. Weder noch. Es verwächst sich nicht einfach mit der Kindheit, denn es ist eine komplett andere Art, in der Welt zu sein. Mit der richtigen Behandlung und Arbeit an den eigenen Wahrnehmungsroutinen, an sozialen Fähigkeiten und durch aktives neurophysiologisches Training, können viele zunächst störende Symptome und Verhaltensweisen, zur Superpower werden. Nicht durch Hemmung, sondern durch Integration und Feintuning. Nicht anders, sondern mehr man selbst werden.

ADHS zeigt sich anders – und oft ganz unerkannt

Je nachdem, mit welchen Voraussetzungen man ins Leben geht, welche Gefühle nie gelernt wurden zu fühlen, ohne in Überforderung zu geraten und welche sozialen Netzwerke, welche weiteren Stressoren, Umweltfaktoren und Veranlagungen zum Tragen kommen, beschreibt die Diagnose immer ein Spektrum. Von dysfunktionaler Wut und Selbstsabotage, bis zur wunderbaren Unterstützung bei Kreativität und Out of the Box Thinking. Viele High Performer befinden sich auf dem eurodivergenten Spektrum. Nicht alle sind hyperaktiv und zeigen körperliche Abreaktionen. Insbesondere Frauen sind eher auf der kognitiven und emotionalen Ebene betroffen. 

Die Diagnostik ist hier Jahrzehnte hinterher, jedoch zeigen die modernen Neurowissenschaften klar, nach welchen Mustern wir suchen müssen, welche Fragen wir stellen müssen. Die einen sind sehr impulsiv nach außen, die Anderen sind impulsiv nach innen; sprechen mit sich in harschem Ton, als dauernd aktiver innerer Kritiker: „Nun mach endlich, nun sei doch mal wie die Anderen, nun hör doch endlich auf mit …“.

Hierdurch entstehen dann auch Komorbiditäten wie Depressionen, Suchtverhalten, andere Coping-Mechanismen wie exzessives Arbeiten oder Sport, zu viele Stunden auf Social-Media, all das nicht fühlen wollen. 

Die nächsten haben Probleme mit der sensorischen Integration und empfinden helle Wände als unangenehm, weil sie reflektieren, empfinden viele Geräusche auf einmal als überfordernd, empfinden vielleicht auch Nähe und die Energie eines sehr vollen Raumes als zu viel. Nutzen Tools wie Kopfhörer, bewusstes Rückzugsverhalten und manchmal eben auch unbewusst sozial abträgliches Verhalten, was in sozialen Ängsten, aber auch Dauerkonflikte münden kann. Wieder anderen hilft das Training der Exekutivfunktion. Sie sind desorganisiert, chaotisch, vergesslich, unpräzise und prokrastinieren. (Anmerkung der Redaktion: Prokrastination, auch bekannt als Aufschieberitis)

Die heiligen drei P, Prokrastination, Passivität und Paralyse sind häufige Themen, in der Praxis oft verbunden mit frühen Bindungsrupturen. Wenn man also selbst oder die Ursprungsfamilie in der frühen Kindheit einige Herausforderungen hatte. So geht es auch direkt zum nächsten Punkt, den Ursachen.

Mythos 2 – Es gibt nur eine Ursache

ADHS ist ganz klar, genetisch oder definitiv durch Trauma oder Umweltfaktoren ausgelöst. Bis auf wenige psychiatrisch-klinische Diagnosen, gibt es bei der Psyche NIE nur einen Grund. Es gibt auch kein einzelnes Gen für Depressionen, wenn auch durchaus ungünstige Veranlagungen. Erfahrungen, die Interaktion in der frühen Kindheit (präverbal, hier ist die rechte Gehirnhälfte ganz allein aktiv, Sprache und die Möglichkeit Erfahrungen zu benennen und somit bearbeitbar ins soziale Gefüge auszusenden kommen erst später online).

Biografie und Veranlagung greifen ineinander

Alles bewegt sich auf einem Spektrum. Die Anfälligkeit für Suchtverhalten, das es womöglich transgenerational in der Familie gegeben hat, genauso wie die Resilienz, mit der wir auf Stress, zeitweise Einsamkeit, selbst auf Lautstärke und zuckerhaltige Lebensmittel reagieren. Wenn Eltern sehr mit sich selbst sehr beschäftigt sind, eigene unverarbeitete Traumata oder schwelende Konflikte händeln, geht es bei der Frage nach „Nature vs. Nurture“ (also wie viel ist Natur, Genetik, wie viel ist veränderbar durch Umwelt, Erziehung, Lernen) in einen Graubereich.

Die Genetik ist nachgewiesenermaßen siebzig bis achtzig Prozent. Folglich hat jemand, der die Diagnose heute im Erwachsenenalter erhält, eine hohe Wahrscheinlichkeit, in seiner Kindheit auf Eltern mit Überforderung getroffen zu sein. Die Reizüberflutung, wenn man mit Klötzen gespielt hat: „Nun sei doch nicht immer so laut!“

Mama ist überfordert, Mama hat gerade Kopfschmerzen, oder Papa hat seine Emotionen nicht im Griff und eine kurze Lunte. Gerade undiagnostizierte Frauen, aber auch allgemein Eltern, die ihre eigene Geschichte nicht bearbeitet haben, laufen Gefahr, viele adaptive Verhaltensweisen bei ihren Kindern auszuprägen, die dann die Veranlagung zu psychischer Instabilität wiederum verstärken. Es ist nie nur eine Sache, aber es ist immer und in vielfältiger Weise eine Möglichkeit zur Entwicklung. 

Beispielsweise der Selbstwert ist ein häufiges Thema und oft angebunden an traumtherapeutische Maßnahmen. Denn wir unterscheiden zwischen dem berühmten „großen T-Trauma“, eine Naturkatastrophe, ein Krieg, sexuelle Übergriffe, frühe Gewalt, Verlust eines Elternteils… und dem oft unerwähnten „war nicht so schlimm, anderen geht’s schlechter“ small-t-Trauma, wie es so schön im englischsprachigen therapeutischen Raum genannt wird. Bindungsrupturen, „nicht gesehen werden“ oder dauernd zu viel sein. Bis zu 10.000 Mal hören Kinder mit ADHS Verhaltenskorrekturen bis zu ihrem zehnten Lebensjahr.

Vernachlässigung im Sinne von emotionaler Distanzierung; liebe Worte gibt es nur für Leistung, körperliche Zuneigung vielleicht gar keine. All diese Dinge führen in der präverbalen und auch sonst frühen Kindheit zu Anpassungsleistungen, die in schlechten Fällen in Diagnosen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung enden.

Bis zum zehnten Lebensjahr sind Kinder mit ihrem Leben von ihren Eltern abhängig, weshalb die Natur die frühkindliche psychische Entwicklung so ausgelegt hat, dass die Eltern immer die Helden sind. Auch wenn sie uns schlecht behandeln – Kinder haben nicht die kognitive Kapazität zu hinterfragen, ob es richtig ist, geschlagen oder beschämt zu werden, sondern stellen ohne Ausnahme fest, dass das Verhalten richtig sein muss, sie also falsch und schlecht und minderwertig sind. Nicht bewusst, sondern in der Art, wie ihr Nervensystem die Welt wahrnimmt.

Späte Erkenntnis – Warum Diagnose und Heilung oft Jahrzehnte brauchen

Bis wir endlich mal erwachsen und groß sind, sind wir Anfang bis Mitte zwanzig – solange nämlich wächst und entwickelt sich unser präfrontaler Kortex. Viele Themen macht man selbst erst auf, wenn man die eigene Familienplanung angeht. Oder noch später.

Gen X und Baby Boomer trifft eine späte Diagnose anders hart, denn so Vieles hätte so viel leichter sein können all diese Jahre. Man kommt dann zu mir mit Fragen, wie sie sich nun ihrer eigenen Elternbeziehung noch mal anders stellen. Oder was sie eigentlich wirklich wollen, wie sie aus dem Hamsterrad aussteigen, wie sie tiefliegende emotionale Blockaden mit dem neu erworbenen Wissen um ihre Andersartigkeit des Gehirns nun angehen können. Und die Lehmschichten von Anforderungen und Erwartungen vieler Jahrzehnte abklopfen, in denen man nicht man selbst sein durfte, oder zumindest nicht so sehr wurde, was man hätte sein können. Und so ist die Arbeit, die „Lösung“, der dritte Irrglaube, nämlich natürlich genauso vielfältig, wie die Auslöser und Ausprägungen.

Mythos 3 – Nur Medikamente helfen wirklich

Medikamente sind die einzige Lösung! (Oder eine vollkommen inakzeptable, die jeden direkt zum Zombie macht.) Therapie und Coaching sind nachweislich wirksam und effizient bei fast allen psychischen Erkrankungen und Syndromen, denn die Neuroplastizität, also die Veränderungsfähigkeit unseres Gehirns, bleibt bis ins hohe Alter erhalten (abgesehen von Demenzfällen). Zu Demenz übrigens laufen aktuelle Studien, da ein erhöhtes Risiko bei undiagnostiziertem ADHS und neurodegenerativen Erkrankungen vermutet wird. 

Durch umfassende, psychodynamische Arbeit mit Körper und Nervensystem auf biologischer Ebene. Durch Betrachtung, Sortierung und Integration von Vergangenheit (warum ist das so?), Gegenwart (wie ist es genau – differenziert, analysiert, granular, veränderbar) und Zukunft. Üben im Heute mit Alltagstransfers: Menschen optimieren durch kleine Routinen Zeitmanagement, Konfliktverhalten oder ihr Cerebellum (für die Exekutivfunktion – wenn ich laufend mit meinen Augen nicht ganz präzise auf den Text schauen kann, weil diese eigentlich automatische Bewegung, nicht vollständig im Kleinhirn integriert ist, verbrauche ich Unmengen mentale Kapazität, wenn ich textlich arbeite). 

Manchen Menschen ist mit einer vereinzelten Tablette für fordernde Tasks geholfen. Beispielsweise jemand, der eigentlich kreativ arbeitet und in seinem gedankenversunkenen Flow sehr gut zurechtkommt, der für die Steuererklärung etwas Hilfe für den Fokus braucht – denn für solche Aufgaben hat sich die Evolution diese besonderen Fähigkeiten, des wahnsinnig schnell mit 1000 Ideen sprudeln, einer irren Auffassungsgabe, nicht überlegt. Wir können unübersichtliche Situationen gut überblicken, bleiben unter Hochdruck ruhig, aber Routineaufgaben und genaues, aber langweiliges Arbeiten, ist einfach schwieriger. Manche hingegen nehmen zufrieden und ohne spürbare Nebenwirkungen, seit Jahren gern ihr optimal eingestelltes Medikament.

Wieder anderen hilft es, sich zu verorten, eventuell zum ersten Mal in Kontakt mit unterdrückten Persönlichkeitsanteilen zu treten und verletzte Motivfelder dank narrativer Arbeit aufzudecken. Wer bin ich eigentlich und warum? Wessen Erwartungen erfülle ich? Warum sind mir die so wichtig? Und wie könnte es werden? Ein herausfordernder, aber wahrer Satz lautet: „Alles, was ist, kann auch anders sein.” Wir Menschen sind Resonanzwesen und betrachten so in der Entwicklung, immer auch das System. Welche Beziehungsebenen aktivieren mein Nervensystem? Was bringt mich unter Druck? Was – ganz wichtig – tut mir gut? Der Mensch verfügt nicht nur über einen Gefahrenscanner in seiner sog. Neurozeption (läuft ununterbrochen im Hintergrund, reagiert, wenn beispielsweise ein Auto heranschnellt oder das Kind droht vom Stuhl zu fallen), sondern auch für eine Sicherheit. Wie fühle ich mich mit einer Person? Wo kann ich Ich sein? Verstanden, gesehen, angenommen fühlen. Wer alles bin ich in meinen verschiedenen Rollen?

Schritt für Schritt in die Aufwärtsspirale – Wie Alltag, Körper und Denken wieder in Einklang kommen

Vielen helfen konkretes Zeitmanagement, neue Strukturen und Sichtweisen darauf, wie man an eine Frage oder Problemstellung herangeht, Perspektiverweiterungen und Reframing. Nur weil ich etwas jetzt schlimm finde, heißt das nicht, dass das so bleiben muss. Gleiches gilt für Dinge, die ich nicht kann oder die in meinem Leben fehlen. Das Toleranzfenster erweitern, hin zu posttraumatischen Wachstum oder zumindest zur Sicherheit, sich selbst den eigenen Alltag zuzutrauen und ihn irgendwann sogar zu genießen.

All diese Faktoren, soziale Einbindung, Integration der Vergangenheit, Verhaltensanpassungen, sind Schritte auf dem Weg in die Aufwärtsspirale. Genauso wie die physiologische Stabilität (Schlafqualität, Bewegung rauf, Alkohol runter, verbesserte Nährstoffaufnahme durch ein gesünderes Mikrobiom – unsere Darmbakterien, die zu einem großen Teil unseren Neurotransmitterhaushalt, unsere „happy chemicals“ erzeugen) und vieles mehr. Die primäre Variable all dieser tatsächlichen und gefühlten Blockaden und all der Chancen, die in einer Diagnose auch im späteren Alter stecken, ist das Nervensystem. Die Regulationsfähigkeit und der Grad der Integration unseres Selbst korrelieren nachweislich und bemerkenswert mit unserem Wohlbefinden, insbesondere auf dem neurodivergenten Spektrum in einer neurotypischen Welt.


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